Erfolg beim Verfassungsgerichtshof: Geschwindigkeitsmessungen müssen überprüfbar sein

Geschwindigkeitsmessungen im Straßenverkehr müssen vollständig überprüfbar sein. Das fordern wir und andere Rechtsanwälte immer wieder. Dieses Problem stellte sich auch in der vorliegenden Sache, mit der sich nun der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes befasst hat: Der Mandant wurde in einem 30 km/h-Bereich mit einer Geschwindigkeit von 60 km/h gemessen; nach Toleranzabzug wurden ihm 57 km/h vorgeworfen und dafür eine Geldbuße von 100 Euro verhängt. Auch ein Punkt wird dafür in das Fahreignungsregister in Flensburg eingetragen.

Amtsgericht und Oberlandesgericht Saarbrücken bestätigten die Geldbuße, da von einer ordnungsgemäßen Messung ausgegangen wurde. Zwar wurde von der Verteidigung versucht, die Messung von einem Sachverständigen technisch überprüfen zu lassen. Dies stellte sich aber als unmöglich heraus, da der verwendete Messgerätetyp Jenoptik TraffiStar S 350 außer dem Fahrzeugfoto und dem Geschwindigkeitswert kaum technisch verwertbare Daten speichert: Obwohl das verwendete Gerät – ebenso wie viele andere Messgeräte – hunderte oder tausende (Rohmess-)Daten von einem vorbeifahrenden Fahrzeug erfasst, um die Geschwindigkeit zu berechnen, werden diese Daten nach der Messung nicht gespeichert. Die Messung kann im Nachhinein also nicht mehr rekonstruiert werden.

Anschließend legten wir für unseren Mandanten Verfassungsbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof des Saarlandes ein. Das Hauptargument war, dass jeder Autofahrer ein Recht haben müsse, den Vorwurf der Geschwindigkeitsüberschreitung zu überprüfen. Andernfalls habe er keine Möglichkeit, sich vor Gericht zu verteidigen und müsse sich blind auf das vom Gerät ausgegebene Messergebnis verlassen. Bereits im Mai fand eine Verhandlung am Verfassungsgerichtshof statt. Mehrere Sachverständige meinten dort, dass auch bei ordnungsgemäß zugelassenen und geeichten Geschwindigkeitsmessgeräten Fehlfunktionen nicht unmöglich seien. So könne die von den Geräten verwendete Software – ähnlich wie bei Computern oder Telefonen – Fehler ausweisen. Würde man die von uns beantragten Rohmessdaten aber speichern und offenlegen, könnten solche Fehler im Nachhinein erkannt werden.

Der Verfassungsgerichtshof folgte nun unserer Argumentation und hob die bisherigen Gerichtsentscheidungen auf. Sein Hauptargument ist, dass jeder die Chance haben muss, sich gegen den Vorwurf der Bußgeldstelle effektiv zu verteidigen. Sonst liege kein faires, rechtsstaatliches Verfahren vor. Bei der Geschwindigkeitsmessung mittels des Geräts TraffiStar S 350 war dies nicht ausreichend der Fall. Die Gerichte hätten nicht die Richtigkeit der Messung unterstellen dürfen, ohne dass überhaupt die Möglichkeit bestand, dies in Frage zu stellen. Daher sei die Geschwindigkeitsmessung nicht verwertbar.

Die wichtigsten Fragen und Antworten für Betroffene haben wir hier kurz zusammengefasst; bei Interesse einfach auf das grüne „+“-Symbol klicken:

Was folgt aus dieser Entscheidung für betroffene Autofahrer?
Der Verfassungsgerichtshof hat nicht entschieden, wie Behörden und Gerichte mit entsprechenden Verfahren im Einzelnen umzugehen haben. Nach der Begründung seiner Entscheidung spricht aber einiges dafür, dass entsprechende Geschwindigkeitsmessungen nicht mehr verwertet werden können und Bußgeldverfahren deshalb eingestellt werden müssen. Genau kann dies erst in einigen Wochen oder Monaten gesagt werden, wenn die Bußgeldgerichte die Möglichkeit hatten, sich auf die neue Rechtsprechung einzustellen.

Wer aktuell einen Bußgeldbescheid erhält, muss allerdings zeitnah (binnen zwei Wochen seit Zustellung) Einspruch einlegen oder durch einen Rechtsanwalt einlegen lassen, da sonst das Verfahren beendet wird und es beim Bußgeld, Punkten und ggf. dem Fahrverbot bleibt.

Welche Blitzgeräte sind betroffen?
Im vorliegenden Verfahren ging es zunächst nur um das Messgerät TraffiStar S 350 der Firma Jenoptik. Das Problem, dass Rohmessdaten nicht gespeichert werden und eine Überprüfung der Messung erschweren oder vereiteln, betrifft allerdings viele andere Geräte, ob fest installiert oder mobil, so z. B. die im Saarland ebenfalls häufig eingesetzten Messgeräte vom Typ Vitronic PoliScan Speed und Leivtec XV3.

Auch die beispielsweise in Rheinland-Pfalz oft eingesetzten „Enforcement Trailer“ (Blitzanhänger) sind betroffen. Das einzige uns bekannte Messgerät, dass die Rohmessdaten ordnungsgemäß abspeichert, ist der Einseitensensor vom Typ ESO 3.0.

Wird die Geschwindigkeitsüberwachung durch diese Entscheidung unmöglich gemacht?
Nein. Zum einen gibt es Messgeräte, welche die neuen Anforderungen bereits erfüllen (siehe letzte Frage), zum anderen ist davon auszugehen, dass die betroffenen Geräte ein Software-Update erhalten, um die Anforderungen des Verfassungsgerichtshofs zu erfüllen oder zeitnah durch andere ersetzt werden.
Wirkt sich die Entscheidung außerhalb des Saarlandes auch in anderen Bundesländern aus?
Die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs ist zunächst richtungsweisend für die Behörden und Gerichte im Saarland. Stellen in anderen Bundesländern sind daran nicht gebunden. Dennoch hat die Entscheidung eines hohen Gerichts Gewicht, so dass ihr Signalwirkung auch in anderen Ländern zukommen kann. Welche Gerichte der Ansicht des Verfassungsgerichtshofs folgen und welche nicht, muss aber erst abgewartet werden.
Wie sieht es bei abgeschlossenen Bußgeldverfahren aus?
Ist ein Bußgeldbescheid wegen eines Geschwindigkeitsverstoßes bereits rechtskräftig geworden, sind die Chancen, dagegen vorzugehen, eher gering. Nur bei Bescheiden, mit denen ein Bußgeld von über 250 Euro oder ein Fahrverbot verhängt worden ist, kann versucht werden, eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erreichen, da es sich bei der Löschung der Rohmessdaten prinzipiell um eine „neue Tatsache“ handelt, die bisher nicht berücksichtigt werden konnte. Ob dies Erfolg haben kann, muss im jeweiligen Einzelfall geprüft werden.

Das Urteil kann hier nachgelesen werden (pdf). (Urteil vom 05.07.2019, Aktenzeichen Lv 7/17)

An dieser Stelle bedanken wir uns außerdem herzlich bei allen, die uns bei diesem Verfahren in den vergangenen zwei Jahren unterstützt haben. Der heutige Erfolg ist auch das Ergebnis einer Teamarbeit, an der zahlreiche Rechtsanwaltskollegen, Mitarbeiter, Messtechnik-Sachverständige und Informatiker beteiligt waren, welche uns mit Tipps und Erfahrungen helfen konnten.

 

Haben Sie einen Bußgeldbescheid erhalten?

Sie können sich gerne bei verkehrsrechtlichen Fragestellungen an uns wenden. Oft können das Bußgeld reduziert, die Punkteeintragung oder ein Fahrverbot vermieden werden.

Entstehende Kosten werden von einer Verkehrs-Rechtsschutzversicherung übernommen. Sollten Sie keine solche Versicherung haben, kann versucht werden, nachträglich eine Versicherung zu erlangen, auch wenn es bereits zu einem Verkehrsverstoß bzw. Bußgeldverfahren gekommen ist.

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4 thoughts on “Erfolg beim Verfassungsgerichtshof: Geschwindigkeitsmessungen müssen überprüfbar sein”

  1. Herzlichen Glückwunsch, Respekt und Anerkennung!

    Jetzt wird „kalt gestellt“: Im Saarland die S350 – und bei uns der Sekt 😉

  2. Perfekt Herr Herr Kollege und Frau Kollegin, habe einenFall mit dem gleichen Gerät hier in NRW , möchte den mit Ihrer Unterstützung auch für NRW klären und dann ggf. Divergenzentscheidung,wenn die anders entscheiden ? Keine Ahnung, bin nur ein kleiner Verkehrsrechtler !!
    Gruß vonder Autohofkanzlei auch im Namen aller meiner Trucker !

  3. Hut ab! Einen besseren Karrierestart kann man sich wohl kaum vorstellen .Weiter so ! Viel Erfolg beim Verfassungsgerichthof in Koblenz !

  4. Bin selbst betroffen. Wurde vom
    Traffipax Speedophot in Brraunschweig geblitzt. Das Gerät speichert die
    Rohmeßdaten nicht. Wurde trotzdem verurteilt. Mein Anwalt bereitet nun
    Rechtsbeschwerde und Verfassungsbeschwerde vor. Da es Letzteres in Niedersachsen nicht gibt, geht die Beschwerde direkt nach Karlsruhe.

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