Mit Beschlüssen vom 20. und 21.06.2023 hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgericht drei Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen Verurteilungen in verschiedenen Bußgeldverfahren richteten (Aktenzeichen 2 BvR 1167/20 und 2 BvR 1082/21, welche von unserer Kanzlei betreut wurden, sowie 2 BvR 1090/21). In allen Verfahren ging es um die Frage, ob Geschwindigkeitsmessgeräte neben dem Messergebnis eines Fahrzeugs weitere (Rohmess-)Daten speichern müssen, um das Messergebnis nachträglich auf Richtigkeit prüfen zu können. Warum das wichtig ist, wurde in anderen Beiträgen schon erklärt. Hier soll eine erste Einschätzung zu den neuen Entscheidungen aus unserer Sicht abgegeben werden.
Eigentliche Rechtsfragen immer noch ungeklärt
Anzumerken ist, dass das Bundesverfassungsgericht sich nicht festgelegt hat, ob Rohmessdaten gespeichert werden müssen oder nicht. Entscheidend war aus Sicht des Gerichts, dass die Verfassungsbeschwerden „nicht hinreichend substantiiert begründet“ waren, dass es also eine ausführlichere und detailliertere Begründung von den Beschwerdeführern erwartet hätte. Ob dies für alle entschiedenen Verfahren zutrifft, vermögen wir nicht zu beurteilen. Jedenfalls in den von unserer Kanzlei geführten Verfahren wurde ausführlich vorgetragen, was sowohl für die technische Seite als auch die rechtlichen Fragen gilt. Unsere Argumentation wird zudem in den Randnummern 8 ff. und 24 ff. (jeweils bezogen auf den Beschluss in der Sache 2 BvR 1167/20) zusammengefasst und kann dort nachgelesen werden. Das Bundesverfassungsgericht wies immer wieder auf seinen Beschluss vom 12.11.2020 hin und meinte, dass auf diesen näher hätte eingegangen und mit diesem argumentiert werden müssen. In diesem früheren Beschluss ging es um das Einsichtsrecht in Rohmessdaten oder sonstige Unterlagen, die aber vorhanden sind (also gespeichert wurden). Dazu ist anzumerken, dass es bei Einreichung unserer Verfassungsbeschwerde (am 03.07.2020) diesen Beschluss noch nicht gab. Gleichwohl hatte unsere Kanzlei in ergänzenden Stellungnahmen Ende 2021 diesen Beschluss berücksichtigt und ist in der Argumentation auf diesen eingegangen.
Deshalb hätte aus unserer Sicht das Bundesverfassungsgericht durchaus eine Entscheidung zur Sache selbst treffen können, wie es beispielsweise der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes und der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz (mit gegensätzlichen Ergebnissen) getan hatten. Auch erteilte es zu keiner Zeit ein Hinweis, dass weiterer Vortrag notwendig sei oder erwartet werde. Bei Unklarheiten bezüglich technischer Fragen hätte das Bundesverfassungsgericht zudem auch Sachverständige anhören können, wie es der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes mustergültig getan hat. Diese hätten dann – aus naturwissenschaftlicher Sicht – erklären können, ob und warum man Rohmessdaten zur Nachprüfung von Geschwindigkeitsmessungen benötigt.
Nachgewiesene Fehler bei einem amtlich zugelassenen Messgerät
Das Gericht weist weiterhin auf die in den meisten Fällen bestehende Zuverlässigkeit sogenannter standardisierter Messverfahren im Straßenverkehr hin. Grundsätzlich ist dies richtig; allerdings hat das Bundesverfassungsgericht hier speziell zu einem Messgerät (Leivtec XV3) entschieden, bei dem 2020 und 2021 in bestimmten Fällen erhebliche Messfehler und -abweichungen nachgewiesen werden konnten. Die Geräte wurde danach in ganz Deutschland stillgelegt. Dies wäre für das Bundesverfassungsgericht ein guter „Aufhänger“ gewesen, um stärker zu berücksichtigen, dass auch zugelassene Messverfahren nicht unter allen Umständen zuverlässig sind und dementsprechend überprüfbar sein müssen. Sachverständige haben zu diesem Messverfahren übrigens ausgeführt, dass dessen Fehlerhaftigkeit schon sehr viel früher hätte nachgewiesen werden können, wenn der Gerätetyp Rohmessdaten speichern würde.
Weitere Verfahren bei den Verfassungsgerichten anhängig
Es kommt im Übrigen häufiger vor, dass Verfassungsgerichte nicht zur Sache entscheiden, sondern auf vermeintliche formale Mängel der jeweiligen Beschwerde hinweisen. Teilweise wird dies so gedeutet, dass die Gerichte in diesen Fällen eine Entscheidung zur Sache vermeiden wollen; letztlich ist das aber nur eine Spekulation. Aus alledem folgt, dass noch immer keine Klärung der von uns aufgeworfenen Rechtsfragen und damit Rechtssicherheit gegeben ist. Man kann dem Beschluss an einigen Stellen zwar eine gewisse „Skepsis“ entnehmen, ob Rohmessdaten wirklich unter allen Umständen gespeichert werden müssen; verlässliche und endgültige Leitlinien für die Praxis enthält er aber nicht. Allerdings liegen dem Bundesverfassungsgericht noch einige weitere Verfahren, in denen es um dieselben Rechtsfragen geht, vor, die noch nicht entschieden sind. In den von uns eingereichten Verfahren werden wir weitere Stellungnahmen abgeben und zu den vom Bundesverfassungsgericht nun angesprochenen Punkten noch detaillierter vortragen. Wie das Gericht darauf reagieren wird, wird die Zukunft zeigen. Die Frage, inwieweit bei Behörden verwendete digitale Vorgänge, Algorithmen oder Systeme mit Künstlicher Intelligenz (KI) sowie deren Ergebnisse aus rechtsstaatlichen Gründen nachvollziehbar und überprüfbar sein müssen, wird sich in den kommenden Jahren voraussichtlich immer dringender stellen und nicht auf Vorgänge in verkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren beschränkt sein.
Neben den verbleibenden Verfahren beim Bundesverfassungsgericht liegen auch verschiedenen Landesverfassungsgerichten vergleichbare Verfassungsbeschwerden vor. Auch diese müssen in der nächsten Zeit entscheiden, ob die nicht näher überprüfbaren Messverfahren im Straßenverkehr rechtlich bedenklich sind. Im Saarland gibt es bereits ein Urteil des Verfassungsgerichtshofs, wonach ein Betroffener im Bußgeldverfahren grundsätzlich das Recht auf Überprüfung der Messung anhand der Rohmessdaten hat, weshalb diese gespeichert werden müssen. Nach vorläufiger Einschätzung hat dieses Urteil für das Saarland auch weiterhin Bestand. Denn grundsätzlich ist ein Landesverfassungsgericht zwar ebenfalls an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebunden; hier hat das Bundesverfassungsgericht aber nur die im Einzelfall eingereichte Verfassungsbeschwerde als unzulässig angesehen und damit gerade keine allgemeingültige und -verbindliche Entscheidung zur Sache getroffen.
Fragwürdige Behördenpraxis seit 2020
Unabhängig von der Frage, wie sich das Bundesverfassungsgericht zur Notwendigkeit von Rohmessdaten positioniert hat oder positionieren wird, hat es in jedem Fall eine „Hintertür“ offengelassen: Es deutete in Randnummer 54 an, dass auch relevant sei, ob eine „staatlich veranlasste willkürliche Beeinträchtigung“ der Verteidigungsmöglichkeiten vorliege und Beschwerdeführer deshalb hierzu vortragen müssten. In den entschiedenen Fällen war solcher Vortrag nicht möglich; beispielsweise hatte im Verfahren 2 BvR 1167/20 die zuständige Polizeibehörde ein Geschwindigkeitsmessgerät angeschafft, bei dem nicht sie, sondern der Hersteller entschieden hatte, keine Rohmessdaten zu speichern. Ein über die Verwendung dieses Geräts hinausgehender „Vorwurf“ konnte staatlichen Behörden also nicht gemacht werden. Seit 2020 ist es allerdings so, dass die für die Zulassung und Prüfung zuständige Behörde (Physikalisch-Technische Bundesanstalt = PTB) den Geräteherstellern sogar untersagt, Rohmessdaten zu speichern, selbst wenn diese sie speichern möchten. Betroffen sind Geräte, die seit dem Jahr 2020 entweder neu zugelassen wurden oder ein Software-Update oder ähnliches erhalten haben. Hersteller, die die Speicherung der Daten in ihre Software implementiert hatten, hatten deshalb keine Freigabe von der Behörde erhalten, dass die Geräte in Deutschland zur Verkehrsüberwachung eingesetzt werden dürfen. Über diese Konstellation hat das Bundesverfassungsgericht noch nicht entschieden. Hier erfolgt die Beeinträchtigung der Verteidigung bewusst durch eine staatliche Behörde. Ob man hier zudem „Willkür“ annehmen kann, ist eine rechtlich komplexe Frage. Es kann aber zumindest sehr gut argumentiert werden, dass die PTB zu der genannten Weisung an die Gerätehersteller nicht befugt war.
Sehr geehrter Herr Gratz,
können Sie die Aktenzeichen der diesbezüglich noch offenen Verfahren vor dem BVerfG veröffentlichen?
Gehört das ESO ES 8.0 Messgerät zu denjenigen, bei denen auf staatliche Veranlassung bzw. auf Weisung der PTB in der Softwareversion 4 die Speicherung der Rohmessdaten AUSGEBAUT wurde?
Beste Grüße
Heinrich Baron von Ameln
Die Aktenzeichen müsste ich bei Gelegenheit einzeln heraussuchen; ich habe sie nicht „zusammengefasst“. Verschiedene Verfahren sind auch von Kollegen und hier nicht näher bekannt.
ESO 8.0 mit der Revision 4 (Software 1.1.0.2) ist ebenfalls von der PTB-Weisung betroffen. Frühere Versionen des Geräts hatten die Rohmessdaten aber gespeichert.